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Refom des Jugendstrafrechts:
Kein Schritt vor, zwei Schritt zurück!

Schlussdiskussion des 30. Strafverteidigertages, Frankfurt/Main 2006

Rechtsanwalt Joachim Schmitz-Justen:

Willkommen meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlich willkommen zur Abschlussdiskussion: "Reformperspektiven für das Jugendstrafrecht, kein Schritt vor, zwei Schritt zurück" - und ein großes Fragezeichen dahinter.
Die Entdeckung des Lebensabschnitts Jugend ist noch nicht so lange her. Erst Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine kulturelle Verständigung darauf, dass es so eine Art Zwischenwelt, ein Zwischenreich zwischen Kindheit und dem harten Leben des Erwachsenen gibt. Es finden in diesem Bereich seit dieser Zeit gesellschaftliche Definitionsprozesse statt, dass Sonderregelungen erforderlich sind. Diese Sonderregelungen sind dann Gesetz geworden, erstmals 1923 im Jugendgerichtsgesetz.
Michael Walther hat einmal gesagt, mit dem Jugendstrafrecht ist die Selbstkritik des Strafrechts entstanden. Das Jugendstrafrecht war immer Suche nach etwas besserem oder etwas anderem als Strafrecht und es war in der Geschichte der letzten hundert Jahre häufig Seismograph des kriminalpolitischen Zeitgeistes. Es war Vorreiter für Neuerungen, z.B. für die Bewährung, den "Täter-Opfer-Ausgleich", die Diversion. Dinge, die erst im Jugendstrafrecht ausprobiert worden sind und dann ins Erwachsenenstrafrecht implementiert wurden.

Wir bekamen im Jahr 1990 ein JGG-Änderungsgesetz noch unter der Kohl-Regierung. Ein erstes JGG-Änderungsgesetz, das, lange vorbereitet, in der Zielsetzung Folgendes festgeschrieben hat: Neuere kriminologische Forschungen haben erwiesen, dass Kriminalität im Jugendalter meist nicht Indiz für ein erzieherisches Defizit ist, sondern überwiegend als entwicklungsbedingte Auffälligkeit mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt, und sich nicht wiederholt. Eine förmliche Verurteilung Jugendlicher ist daher in weitaus weniger Fällen geboten, als es der Gesetzgeber von 1953 noch für erforderlich erachtet hat.
Das war 1990. Mit diesem Gesetz sind Diversion, Täter-Opfer-Ausgleich und Haftvermeidung Gesetz geworden; ein Gesetz das damals schon einen Fortschreibungsauftrag an die Politik enthielt: Ein zweites, umfassenderes JGG-Änderungsgesetz sei auf den Weg zu bringen und dieser Fortschreibungsauftrag ist bis heute, mache sagen zum Glück, uneingelöst. Denn es kam Anfang der 1990er Jahre mit der politischen Wende auch eine Wende in der Kriminalpolitik: Bis Mitte der 1990er Jahre wurde ein Anstieg der registrierten Jugendkriminalität verzeichnet, es gerieten Einzelfälle, einmal als "Monsterfälle" bezeichnet, in das mediale Interesse; wir diskutieren seit acht Jahren über "Mehmet" und seine Folgen. Jede Stadt hat inzwischen ihren eigenen "Mehmet" bekommen. Das heißt: die Diskussion ist personalisiert worden. Gleichzeitig dokumentiert sich hier eine Verschiebung der generellen kriminalpolitischen Diskussion, die Thema dieses Strafverteidigertages überhaupt ist. Es stehen nicht mehr die Hilfe und die Behutsamkeit im Umgang mit jungen Menschen im Vordergrund, sondern es sind neue Feindbilder entstanden. Zu diesen Feindbildern gehört der "gewaltbereite Jugendliche", der sogenannte Intensivtäter, gehört der sogenannte "Nicht-Erreichbare", der "die hilflosen Helfer" verspottet. Gefolgert wird: Wegsperren, manchmal auch Wegsperren für länger, und in der neuesten Diskussion über die Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen, vielleicht auch Wegsperren für immer.
Die rechtspolitische Diskussion im Jugendstrafrecht hat sich also gewandelt von der Integration zur Ausgrenzung. [...] 2002 hat der Juristentag in Berlin die Frage diskutiert: "Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?" Verschiedene Änderungsvorschläge und -entwürfe liegen seit längerem auf dem Tisch. 2002 hat die Deutsche Vereinigungen für Jugendgerichtshilfe einen Entwurf vorgelegt. 2003 hat das Land Baden-Württemberg im Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, in dem "bekämpft", "verbessert bekämpft" wird. Es heißt "Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz". 2004 gab es dann einen Referententwurf aus dem Justizministerium, der viele der Zumutungen nicht mit aufgenommen hat, die im Bundesrat eingebracht worden sind. Der Vorschlag von Baden-Württemberg war vorerst der Diskontinuität anheim gefallen und ist vor vier Wochen unverändert wiederum im Bundesrat eingebracht worden.
Also: Welche Reformperspektiven gibt es, welche sind sinnvoll und welche sind nicht sinnvoll?

Ich darf Ihnen hier oben auf dem Podium vorstellen, Professor Franz Streng, Strafrechtslehrer und Kriminologe von der Universität Erlangen-Nürnberg. Er war als Sachverständiger auf dem Juristentag 2002 tätig, und ist vielen von Ihnen als häufiger Gast des Strafverteidigertages bekannt. Er hat u.a. ein Lehrbuch zum Jugendstrafrecht geschrieben. Neben ihm Klaus Breimann, Oberstaatsanwalt aus Magdeburg, lange Jahre Leiter der dortigen Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft, lange Jahre stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, und dem einen oder anderen auch schon als Referent auf dem Strafverteidigertag bekannt. Und last but not least der Herr Kollege Lukas Pieplow aus Köln, Strafverteidiger, seinerzeit auch Mitglied der Reformkommission der Deutschen Jugendgerichtsvereinigung und dem einen oder anderen auch aus Fortbildungsveranstaltungen bekannt.

In Heft 2/2006 der NStZ wird der Kopfaufsatz von Herrn KUSCH aus Hamburg angeführt mit dem "Plädoyer für die Abschaffung des Jugendstrafrechts". Wie kommt es, dass heute diese Positionen vertreten werden? Gehört das Jugendstrafrecht abgeschafft?

Prof. Dr. Franz Streng:

Danke für die Frage, die sich zunächst einmal leicht beantworten lässt: Nein, wir werdend das Jugendstrafrecht doch besser nicht abschaffen! Ich möchte ein paar Anmerkungen [...] zu den Hintergründen und Überlegungen machen, warum man sehr gute Gründe hat, zu sagen, wir bleiben im Grundsatz bei dem Modell, das wir haben.
Sie haben bereits die Entstehung des Jugendgerichtsgesetzes geschildert. Daraus dürfte allen klar werden, dass dieses keine Erfindung der sog. 68er Generation ist. Man fragt sich also, warum wollen die das jetzt plötzlich wieder abschaffen? Betrachtet man in die Situation der Jugendlichen, der Heranwachsenden, heutzutage, wird man feststellen, dass die Schwierigkeiten, erwachsen zu werden, heute keinesfalls geringer sind als zu Zeiten der Entstehung des Jugendgerichtsgesetzes. D.h.: Die Befunde der Kriminalpädagogen, der Psychologie und auch die Befunde der Praktiker im Strafrecht, die letztlich die Entstehung des Jugendgerichtsgesetzes getragen haben, gelten im Kern immer noch und sogar [..] verschärft... Wir sehen zwar allenthalben, und das mag oberflächliche Betrachter täuschen, dass Jugendliche früher als früher auf Selbstständigkeit pochen, dass sie sich früher aus der Überwachung und dem Schutz der Eltern befreien. Es wäre aber absolut verwegen, das mit Reife und Erwachsenheit zu verwechseln. Das Gegenteil ist der Fall: gerade weil der Schutzbereich der Familie geringer geworden ist, wird das Erwachsenwerden komplizierter, das Austesten der Grenzen geschieht früher und hat größere Bedeutung für die Jugendlichen. Daher wäre es ein unverzeihlicher Rückschritt, wenn man sagen würde, wir betrachten die Jugendlichen heute als junge Erwachsene, die halt ein bisschen jünger als die anderen jungen Erwachsenen sind, und wenn das Strafrecht zum Einsatz kommt, gibt es eine gemilderte normale Strafe und das war's. Dieses Modell, das wohl dem Herrn KUSCH vorschwebt, wird der Lebenssituation der Jugendlichen in keiner Weise gerecht.
Von daher wird man die Frage stellen müssen: Wie kommt jemand dazu, das Jugendstrafrecht abschaffen zu wollen? Von der Lebenssituation, von den notwendigen Hilfestellungen für Jugendliche, ist das überhaupt nicht zu legitimieren.

Es fällt auf, dass durch die Diskussion immer wieder die Aussage geistert, da sei zuviel "weiche Welle" im Jugendstrafrecht. Da werde zu wenig "hingelangt" und weil die zu sanft und so rücksichtsvoll behandelt würden, deswegen gäbe es eben so viel Jugendkriminalität. Ein Argument, dem man sich kurz widmen sollte.
In der Tat, wenn sie die zahlenmäßige Entwicklung der Jugendkriminalität anschauen, werden sie feststellen, der Anstieg über die letzten Jahrzehnte sehr viel stärker ist, als derjenige der Erwachsenenkriminalität - auch relativ gesehen. Bei kurzatmiger Betrachtung könnte man also auf die Idee kommen, da sei was im Jugendstrafrecht falsch. Aber die Gegenposition lässt sich relativ leicht begründen: Es gibt inzwischen, dank Evaluationsforschung, sehr viele Erkenntnisse darüber, dass gerade die jugendstrafrechtspezifischen Sanktionen sehr viel tauglicher sind, Rückfälle zu verhindern, als die originär strafrechtlichen Sanktionen. Wenn man also bei Jugendlichen etwas falsch machen will, dann braucht man nur auf Jugendarrest und auf Jugendstrafen zurückzugreifen, also auf die typisch repressive Art der Sanktion des Erwachsenenstrafrechts. Denn da haben wir mehr Rückfälle. [...] Das Argument der angestiegenen Jugendkriminalität ist [...] also ein Rohrkrepierer. Man kann nämlich nicht belegen, dass diese mit dem spezifischen Instrumentarium des Jugendstrafrechts zu tun hat, sondern muss akzeptieren, dass die Situation der Jugendlichen, auf dem Wege zum Erwachsensein, heutzutage eben sehr viel problematischer und schwieriger ist als früher. Und wenn das so ist, dann frage ich mich, wie man auf die Idee kommt, das Jugendstrafrecht abschaffen zu wollen.
Ein letztes: Ich würde auch behaupten, dass diese Geschichte mit der "weichen Welle", schlicht falsch ist. Das einzige was wir sicher beobachten können ist, dass im Jugendstrafrecht mehr Erstverfahren informell behandelt werden - d.h. Einstellung des Verfahrens nach § 45 JGG und auch § 47 JGG, aber vor allem auf der Ebene der Staatsanwaltschaft. Diese Einstellungen von Jugendstrafverfahren durch die Staatsanwaltschaft und die Eingriffe, die in der Vereinbarung bestehen, die der Staatsanwalt mit dem Jugendlichen trifft, sind nicht folgenlos. Sie sind durchaus eingreifend in die Lebensgestaltung des Jugendlichen. Das betrifft beim § 153, 153a Verfahren die Erwachsenen meist nicht so. D.h.: Auf dieser Ebene der Einstellung des Verfahrens ist gar nicht so viel "weiche Welle" zu beobachten.
Auch wenn man die Aburteilungen anschaut, ist einiges zu bemerken. Ich sitze derzeit an der Auswertung einer vergleichenden Studie zur Strafzumessung in bestimmten Gerichtsbereichen, im Bereich der eigentlichen Nebenklageverfahren. Da haben wir die entsprechenden Jugendverfahren einfach mal mitausgewertet und uns angesehen, wie sich in die Strafzumessung erklären lässt. Gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen? Das Ergebnis ist frappierend. Es ist gegenüber Jugendlichen nur eine minimal geringere Strafhärte zu beobachten. Das widerspricht der Evidenz. Wie kommt es dazu?

Jugendliche begehen andere Delikte als Erwachsene. Wenn wir die Tatschwere und insbesondere ihre Vorstrafenbelastung berücksichtigen, dann erklärt das sehr viel mehr die Strafhöhe, als der Jugendlichenstatus. Der Jugendlichenbonus bei der Strafzumessung, wenn das Verfahren vor Gericht kommt, ist also relativ gering. Es handelt sich bei der Behauptung, Jugendliche würden zu milde angefasst, daher eher um eine optische Täuschung als um einen haltbaren Befund. Und schon deswegen kann ich die Frage beantworten: Wir werden das Jugendstrafrecht doch bitte nicht abschaffen.

RA Schmitz-Justen:

Herr Breimann, es ist einmal die Rede davon gewesen, dass im Jugendstrafrecht die Kriminalpolitik im Blindflug funktioniere. "Wissen ist Macht, nichts Wissen macht auch nichts", hat WOLFGANG HEINZ mal gesagt. KUSCH sagt nun ganz apodiktisch: "Wer zum Strafrichter muss, der weiß was ihm blüht." Schluss also mit dem "Schmusekurs"... Was ist eigentlich die Funktion dieser Diskussion?

Klaus Breymann:

Zunächst erlauben sie mir bitte, dass ich auf die Komik der Situation hinweise. Eine große Versammlung mit ernsthaften und ernstzunehmenden Männern und Frauen beschäftigt sich hier mit einem Thema, wie es der Justizsenator Kusch mit seinen Thesen vorgibt. Das ist eigentlich nicht recht verständlich. Gleichwohl ist es nötig... Warum sind wir aber in der Situation, uns mit diesem ganzen Schwachsinn beschäftigen zu müssen?

KUSCH sagt, er wolle Strafrichter, die strafen, er wolle Haftrichter die verhaften - und mehr solchen Quatsch, der nicht ernst zu nehmen ist. Ich glaube, man kommt der Sache näher, wenn man sich die Landschaft anschaut, in der Jugendliche heute leben. Es ist of gesagt worden, dass Jugend alleine nicht vor kommt, dass sie eingebettet ist in die Erwachsenengesellschaft - notgedrungen, denn anders geht es nicht. Das Verhalten von Jugendlichen reflektiert daher auch immer den Zustand der Erwachsenengesellschaft. Das hat zu allen Zeiten gestimmt und das stimmt auch heute. Auch heute lässt der Umgang der Gesellschaft mit Jugendlichen, insbesondere im Rahmen der Politik, sehr zu wünschen übrig. Denn der allgemeine Verschärfungstrend, den wir im Strafrecht so beklagen, kommt eben nicht isoliert daher, sondern er ist ebenfalls eingebunden in einen breiten gesellschaftlichen Mainstream. Wir kennen diese Formulierung mit den "F"'s - Fördern und Fordern. Das gilt natürlich in gleicher Weise für das Jugendstrafrecht: "Wir wollen fördern, aber wir müssen natürlich auch fordern!" Nur hat keiner erklärt, in welchem Verhältnis diese Begriffe eigentlich stehen sollten - soviel fördern wie möglich und so viel fordern wie nötig oder umgekehrt? Aber wir wissen doch ganz genau, dass wir gerade im Jugendstrafrecht - wenn wir mal von ubiquitärer Kriminalität absehen, also dem, was wir zu unserer eigenen Freude früher auch gemacht haben - da, wo es wirklich um die schwierigen, die dicken Bretter geht, [...] mit dieser Forderung von Fördern und Fordern keinen Schritt weiterkommen. Weil wir wissen: Dies sind die typischen Leistungsversager und Anpassungsverweigerer, mit denen das normale Handwerkszeug nicht zurechtkommt, um die man sich in ganz besonderer Weise und ganz besonders intensiv kümmern muss. Und da sind wir inzwischen so weit, dass das dritte F, das noch fehlt, in Kraft tritt: Denn der ganze Spruch heißt: "Fördern, Fordern, Fallenlassen."

RA Schmitz-Justen:

Zu Herrn KUSCH noch eine Runde hier oben und dann sollten wir das aufgreifen, was sie eben angedeutet haben. Lukas Pieplow - die bayerische Justizministerin hat in der Zeit am 16.2.2006 geschrieben, das Jugendstrafrecht müsse bleiben, weil es ein Akt des politischen Mutes war. Allerdings brauche man natürlich für die paar, die wir mit diesem Jugendstrafrecht nicht erreichen, dann die Sicherungsverwahrung. Das steht im letzten Absatz. Schönwetter-Gesetze könnten wir in der Zeit des Bekämpfungs-Strafrechts nicht mehr brauchen.

Lukas Pieplow:

Zunächst mal zu der gestellten Frage, "Müssen wir das Jugendstrafrecht abschaffen?": Wir müssen uns nicht alle einig sein. Ich bin sofort dafür es abzuschaffen, wenn wir ein besseres, neues bekommen.
Ich will eine kleine Geschichte erzählen: Vor drei Wochen traf ich einen Bekannten, dem ich im Laufe des Gesprächs mein Tagespensum erzählte und die Geschichte, dass ich einen Sechzehnjährigen zu verteidigen hatte, wegen Raubvorwürfen auf der Straße. Er lebt zusammen mit seinem ein Jahr älteren Bruder, auch die Betreuung der Mutter findet wochentäglich zwei Stunden statt. Denn die Mutter ist im offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt Köln und hat von 15.00 bis 17.30 Uhr Ausgang zur Betreuung ihrer Kinder. Der Vater befindet sich nicht in diesem Haushalt. Diese Geschichte erzählte ich also meinem Bekannten. Er ist übrigens Banker in dieser Stadt. Ich sagte dann etwas von Jugendhilfe, Ansprüchen und Leistungen des Staates, er sah mich entgeistert an, und sagte zu mir: "Warum erzählst du mir diese Geschichte? Das will ich nicht auch noch bezahlen."
Diese Episode ist nicht ganz untypisch. Blicken wir mal über den Tellerrand, in einen etwas größeren Kosmos: Unsere sog. Bildungslandschaft. Findet da nicht genau dasselbe an Ausgrenzung, an Ökonomisierung von politischen Rezepten statt? Wenn der UN-Bildungskommissar der Bundesrepublik Deutschland vorhält, drei Problempunkte seien es, die die Strukturen hier defizitär erscheinen lassen, nämlich zu frühe Aussonderung von Benachteiligten, zu wenig Kompensation von Chancen Benachteiligter, und zu viel Föderalismus, dann kann man das herunterbrechen auf unsere Debatte und kann feststellen, dass der Banker, wie Herr KUSCH, der Meinung sind, der Spreu müsste so früh wie möglich vom Weizen getrennt werden. Keine Ausgaben mehr in Sozialromantik! Und am Besten die Vollzugs-Zuständigkeit bei den Ländern! So lächerlich die Debatte über die Inhalte von Herrn KUSCH ist, haben wir uns also doch damit zu beschäftigen, warum bekommt er in einer Zeitschrift wie der NStZ den Aufmacher bekommt. Wem nützt das? Ich glaube, es nützt der Hebelwirkung für die Gesetzentwürfe, die die Bundesratsmehrheit der C-Länder nun schon seit zehn Jahren in einem Dutzend Anläufen versucht, Gesetz werden zu lassen. KUSCH hat im Übrigen dem neu eingebrachten Gesetzentwurf aus Baden-Württemberg sofort zugestimmt. Insofern ergänzt das eine, das andere.

Zurück auf deine Frage: Stichwort "Schönwettergesetz". Der Reichsminister der Justiz hat im Jahre 1923, zum Zeitpunkt der Einführung dieses Gesetzes, gesagt, welche besondere Bedeutung dieses Gesetz gerade in der gegenwärtigen Zeit hat, deren Nöte die Kriminalität der Jugendlichen ins Ungeheuerliche hat anschwellen lassen. Das bewiesen die Ziffern die der Berichterstatter vorgetragen hat. Die spezifische Entstehungssituation dieses Gesetzes ist also nicht die rosiger Zeiten. Ich greife noch mal das zitierte Motto des Juristentages 2002 auf, dass sich das Jugendstrafrecht als nicht mehr zeitgemäß erweise. Das war billige Polemik. Im Jahr 1953 finden wir noch einmal dieselbe Situation: Der Bericht der Bundesregierung führt aus, dass der Krieg mit seinen tiefgreifenden Folgen die Entwicklung der jetzt Heranwachsenden besonders hart betroffen hat. Das waren Bewusstseinslagen dafür, dass man gerade in schwierigen Zeiten, in Zeiten sozialer Verwerfungen, ein differenziertes Gesetz braucht.

RA Schmitz-Justen:

Wir sollten also Herrn KUSCH in der NStZ vergilben lassen... Die Funktion, die diese Meinung im rechtspolitischen Diskurs hat, ist angesprochen. Ansonsten ist es Common Sense, dass man sich dieses Zwischenrecht, zwischen dem Jugendhilferecht und dem Erwachsenenstrafrecht, weiter leisten muss. Aber wir kommen in dieser Reformdiskussion auch nicht darum herum, uns mit diesen auf dem Tisch liegenden Gesetzentwürfen zu befassen. Wenn wir das Jugendstrafrecht erhalten wollen, ist die zentrale Frage der Diskussion: Gehört das Jugendstrafrecht reformiert? Und wenn ja, wie?
WINFRIED HASSEMERS Beitrag [1], der im Materialheft abgedruckt ist, war ein Vortrag auf dem Jugendgerichtstag in Leipzig. Dieser Vortrag liest sich wie der besonderer Teil zu dem allgemeinen Teil den er am Freitag zur Eröffnung hier vorgetragen hat [2] , nämlich heruntergebrochen auf das Spezialthema des Jugendstrafrechts. HASSEMER hat davon gesprochen, dass das Problem dieses Gesetzes seine Widersprüchlichkeit ist, dass es Gesetz Sollbruchstellen enthält. Und an diesen Sollbruchstellen wird nun von verschiedenen Seiten gearbeitet. Wir haben uns zwei Schwerpunkte vorgenommen, die wir herausgreifen und die auch den Kern der Diskussion bilden: Der eine ist die Frage der Altersgrenzen im Jugendstrafrecht und der zweite der Problemkreis der Änderungen im Sanktionenbereich, hier insbesondere dieser horribile dictu "Warnschuss-Arrest" und die Frage der Erhöhung der Höchststrafen bis hin zur Sicherungsverwahrung für Achtzehnjährige.
Ob wir Kinderknäste brauchen, müssen wir nicht mehr diskutieren: Die Haft für Zwölf- und Dreizehnjährige wird, wenn ich das richtig sehe, nur noch vom Bund der deutschen Kriminalbeamten gefordert, der jedes Mal, wenn die polizeiliche Kriminalstatistik verkündet wird, sagt, wenn man die Zwölfjährigen einsperrte, würde man die Probleme lösen. Aber was ist mit den jungen Volljährigen?

Herr Breymann - die zentrale Diskussion rankt sich ja letztlich um die Frage von hohen Strafrahmen wie im Erwachsenenstrafrecht und das zentrale Argument ist die behauptete Unerträglichkeit von Verfahrensergebnissen, in denen Jugendliche zu milde davon kommen. Es wird mit spektakulären Einzelfällen rechtsradikaler Schlägertrupps argumentiert und wir dürfen uns da auch nicht ganz von frei machen, denn auch linke Strafverteidiger rufen in diesen Verfahren nach Härte, sobald sie auf der Nebenklagebank sitzen. Muss man auf diese Argumentation mit der Unerträglichkeit der milden Strafen eingehen? Muss der § 105 JGG geändert werden?

Breymann:

Ich glaube, dass man ihn nicht ändern muss. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen zu der Frage der Reform oder Nicht-Reform. Unabhängig davon, ob das was jeweils im Bundesrat liegt und beraten wird, beschlossen wird, befördert es die Reformdiskussion, die wir ohnehin bereits haben. Das ist eben auch nur Teil eines Gesamtszenarios, das eine breite Verschärfung in der Justiz, sozusagen als gespiegelte Öffentlichkeit, bereits hervorgebracht hat. Wir brauchen also keine Verschärfungsdiskussion und keine großartigen verschärfenden Reformen mehr, wir haben Sie längst. In einem anderem Zusammenhang hat PFEIFFER ausgerechnet, dass in den letzten zehn Jahren alleine 40 verschiedene Strafrechtsnormen verschärft worden sind. Das ist ein nicht unerheblicher Anteil aller Strafrechtsnormen überhaupt. Wenn wir uns ansehen, wie diese permanente Verschärfungsdiskussion in der Praxis ankommt, dann stellen wir durchaus fest, dass Jugendstrafe verhängt wird - und auch längere Jugendstrafen. Wir sehen, dass der Arrest, von dem wir irgendwann einmal gedacht haben, er stirbt uns sozusagen irgendwann mal unter den Händen weg und dann redet keiner mehr darüber, eine Renaissance erlebt. Sachsen-Anhalt hat, bis vor einiger Zeit, für Thüringen den Arrest mitvollstreckt. Dann hat Thüringen eine eigene Anstalt gebaut und es ist dennoch keineswegs so, dass unsere Anstalt in Sachsen-Anhalt jetzt leerer wäre. In vielen Fällen brauchen wir also keine verschärfenden Gesetzen mehr, wir haben bereits eine verschärfende Praxis.
Sie läuft auch im Bereich von § 105 JGG - die Anwendung von allgemeinen Strafrecht wird heute häufiger ausgerollt als früher. Das alles sind bereits jetzt schon Ergebnisse der "Reform"-Diskussion, ohne dass wir neue Gesetze hätten. Sicher: Es gibt immer wieder Grenzfälle, die schwer erträglich sind. Das will ich gerne zugeben. Wenn ein Neunzehnjähriger mit einem Einundzwanzigjährigen eine Tankstelle überfallen hat und die haben dabei den Tankwart ermordet. Der Einundzwanzigjährige ist der Dämel von den beiden, der wirklich helle Spitzbube ist der Neunzehnjährige. Der eine kriegt zehn Jahre und der andere lebenslänglich... Toll finde ich das nicht. Aber ich bin eben Jurist genug, um zu wissen, dass jede Grenzziehung etwas willkürliches ist, ganz egal, ob im Steuerrecht oder im Strafrecht. [...] Das rechtfertigt dann nicht, das bisher bewährte System auf den Kopf zu stellen.
Meine Meinung ist in der Tat, wir sollten den § 105 ändern und reformieren. Ich habe der zweiten Jugendstrafrechtsreformkommission der DVJJ angehört und die dort vorgeschlagene Regelung ist durchaus auch auf meinem Mist mitgewachsen. Wir haben vorgeschlagenen, wir machen das überhaupt durchgängiger und auch für die Altersstufe 21 spricht nichts so recht, wenn wir denn in der Tat feststellen dass das Erwachsenenleben immer länger dauert... Da machen KUSCH & Co. den Leuten was vor: Es ist ja keineswegs so, dass man heute mit 18 alles dürfte. Versuchen sie mit 18 einen Jumbo-Jet zu fliegen oder einen Linienbus zu fahren, natürlich geht das nicht. Ganz selbstverständlich hat man das Waffenrecht reformiert und heute ist die volle "waffenrechtliche Mündigkeit" erst ist mit 25 Jahren erreicht. Das ist völlig richtig, alles spricht dafür. Darum denke ich, wir brauchen insgesamt durchgängigere Regelungen bis 25. Was ist eigentlich schlechtes daran, wenn wir die Sanktionsbreite des Jugendstrafrechts auch für Erwachsene zugänglich machen? Es wäre ein Gewinn! Wenn ich mir tatsächlich ein Gesetz wünschen dürfte, was umgehend in Kraft gesetzt würde, dann es ist nur eine einziges: Ich wünsche mir einen § 37, der verbindlich ist. Ich wünsche mir, dass im Jugendstrafrecht nur Richter und Staatsanwälte, übrigens auch Verteidiger, tätig sind, die ausreichend pädagogisch und sozialpädagogisch qualifiziert sind. [APPLAUS]
....

RA Schmitz-Justen:

Herr Streng - die Salve der Binnendifferenzierung nennt Hassemer diesen § 105 JGG. Brauchen wir diese Salve, um diesen Schmerz zu ertragen, dieser Einzelfälle, der gefühlten Ungerechtigkeit?

Franz Streng:

Ich will mit kurzen Erlebnis beginnen: Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit in Italien vor einer Anwaltsvereinigung einen Vortrag zu halten über das deutsche Jugendstrafrecht. Als ich berichtete, dass im deutschen Strafrecht es so ist, dass bei den 18 bis unter 21-jährigen der Richter sozusagen aussucht, welches Gesetz er anwendet, bin ich auf fassungsloses Staunen gestoßen. Die waren von da an mehr oder minder der Überzeugung, das Deutschland wohl doch kein Rechtsstaat ist.
Das hat mich beeindruckt. Man hat sich ja schon an die Situation gewöhnt. Und in der Tat, FRANZ VON LIST, der große Kriminalpolitiker Ende des19. Anfang des 20. Jahrhunderts, hatte mit dem Jugendgerichtsgesetz einen großen Erfolg. Es war nicht nur sein Erfolg, aber auch sein Erfolg. Er hat ein Täterstrafrecht auf den Weg gebracht - wir kümmern uns ganz besonders um die Täter -, das sehr gute Seiten hat. Aber es hat auch ein paar wacklige Seiten. Die eine wacklige Seite ist der § 105, die andere wacklige Seite ist die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen als typisches Täterstrafrecht. Ich frage mich ob in Zeiten in denen unser Bewusstsein hinsichtlich der Garantien für Täter, Straftäter und für Bürger natürlich wächst, wir solche unbestimmten Regelungen wie den § 105 wirklich bestehen lassen sollten. Ich habe erhebliche Zweifel. Ich meine eine klare, rechtsstaatlich saubere Lösung ist vorzuziehen, nämlich die Heranwachsenden ins Jugendstrafrecht einzubeziehen. Derzeit ist natürlich die Gegenposition stark. Mann will die Heranwachsenden möglichst ganz aus dem Bereich der Jugendstrafrechtssanktionen raus haben. Davon halte ich überhaupt nichts.
Wenn Sie erstens die Kriminalitätswirklichkeit anschauen und zweitens die Lebenssituation der 18 bis 20-Jährigen, dann ist völlig klar, dass die von ihrer Lebenssituation, der Umbruchsituation, der Findungsphase, der Statusunsicherheiten und dann auch der entsprechenden Delikte ganz sicher zu den Jugendlichen gehören. Von daher ist es naheliegend zu sagen, wir nehmen die Heranwachsenden hinein ins Jugendstrafrecht.
Dennoch besteht dann weiterer Reformbedarf. Ich bin mir sicher, dass man das der Allgemeinheit kaum zumuten kann: zehn Jahre Obergrenze der Strafe, auch für Heranwachsende, immer. Erst ab dem 21. Geburtstag gibt es dann lebenslang. Ich glaube das wird sich nicht machen lassen - und man wird wohl die Kröte schlucken müssen, für die Heranwachsenden im Rahmen des Jugendstrafrechts einen Sonderstrafrahmen zu akzeptieren, der bis 15 Jahre Freiheitsstrafe geht. Ich sage das nicht gern, zugegeben aber man passt sich natürlich doch etwas an die sozialpsychologischen Gegebenheiten an. Wenn man also politisch den Erfolg haben will, dieses Modell 'Heranwachsende rein ins Jugendstrafrecht' durchsetzen zu wollen, dann muss man wohl für diese Gruppe eine Strafrahmenerhöhung akzeptieren, mit dem großen positiven Erfolg, dass dann kein Heranwachsender mehr lebenslang erhalten kann.
...

Klaus Breymann:

Ich bin nicht der Auffassung, dass man nachgeben und die Obergrenze der Jugendstrafe auf 15 Jahre erhöhen sollte. Ich sehe die taktischen Gesichtspunkte natürlich, aber ich glaube der Preis, der da gezahlt wird, ist zu hoch. Ich hatte vorhin einen Beispielsfall genannt, wo der Heranwachsende wahrscheinlich besser weggekommen wäre. Mag sein dass diese Fälle gerechter aussehen würden, aber letztendlich geht es nicht darum, einen gewissen Ausgleich in den Obergrenzen zu schaffen, sondern das Ergebnis wird einfach sein, dass die Marge für Jugendstrafen ganz allgemein nach oben geht. Heute ist es allgemein Usus, dass die 10 Jahre nicht ausgeschöpft werden... [...] Wenn wir in Zukunft 15 Jahre Obergrenze haben, dann wird, das sage ich Ihnen aus fünfundzwanzigjähriger Erfahrung vor deutschen Gerichten, der Schnitt nicht mehr bei 8,5 Jahren liegen, sondern bei 12 Jahren. Dieses Risiko sollte man nicht eingehen. Es in der Sache eigentlich alles dagegen. Man muss immer wieder darauf hinweisen, dass Zeit im Jugendalter eine andere Dimension besitzt, als im Erwachsenenalter. Wenn ich 17 bin ist es ein gewaltiger Unterschied, ob ich acht Jahre minus Eindrittel oder 12 Jahre minus Eindrittel weggebe. [...] Wenn ich einem 17-jährigen sagen müsste "12 Jahre", dann wäre das für ihn wie der Rest des Lebens. Das kann man Jugendlichen nicht zumuten. Darum: Finger weg von dieser Erhöhung, die in der Sache nichts bringt. Es ist so eine Art Friedensangebot. Aber ich sage ihnen ganz klar, dieses Friedensangebot wird geschluckt und die nächste Forderung wird sofort kommen. Sie werden keinen Frieden bekommen aber haben die 10-Jahres-Grenze verkauft.

Franz Streng:

Ich fühle mich entschieden missverstanden. Ich rede nur über die Heranwachsen, das ist völlig klar.

Lukas Pieplow:

Zunächst noch eine Bemerkung zum "Schmerz der Grenze": Wenn uns vorletzte Woche der Bundesgerichtshof Altersgrenzen dafür definiert, wie alt ein Kind sein kann, damit es heimtückisch mit einem Messerstich ums Leben gebracht werden kann, und wo die Grenze sein könnte, dass es zu klein ist, im Zustand der Wehrlosigkeit, das Mordmerkmal der Arg- und Wehrlosigkeit zu erfüllen... Was haben wir denn sonst noch für "Schmerzen an den Grenzen"? Wir doch nicht auf die Anspielung, dass es uns weh tut bei dem Fall, den Klaus Breimann gebildet hat, hier einknicken. Dazu gibt es gar keinen Anlass.
Stichwort Verwerfung: Ich glaube, das ist der Ernst der Stunde. Um sich das noch einmal bewusst zu machen das Beispiel FRIEDRICH SCHAFFSTEIN. 1936: "Erziehung und Strafe im künftigen Jugendstrafrecht"; dann der Notar der braunen Gesetzgebung, "Einführung des Jugendarrests gegen Streichung des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung"; dann der Lehrbuchschreiber von 1959 bis 1979, im Grunde das einzige Lehrbuch, das erklärt hat, dass dieser Jugendarrest eine stringente Fortschreibung des JGG von 1923 und damit der Inbegriff eines Erziehungs-Strafrecht sein könnte. Mir ist ganz schwer zumute geworden im Jahre 2001 den Nachruf auf diesen FRIEDRICH SCHAFFSTEIN zu lesen, den sein Schüler in der Zeitschrift der DVJJ geschrieben hat. Von einem noblen Mann war die Rede. Von einem schmalen Zeitraum in den "fatalen Jahren" von 1933 bis 1945, in denen er, FRIEDRICH SCHAFFSTEIN, in "die Nähe der Nationalsozialisten gerückt" war. Er war vielmehr ein Mandarin dieser Situation und er hat alles verkleistert, was er damals produziert hat. Ich glaube es gehört zu den Bedingungen, wenn man das geltende Jugendstrafrecht einerseits verteidigen, aber andererseits auch aufbrechen, in eine Reform die diesen Namen verdient hat überführen will, uns diesen Prozess bewusst zu machen. Wenn wir endlich kapieren, dass im Jahre 1940 bereits, vor der Gesetzesfassung des Jahres 1943 im Gegenzug zur Einführung des Arrests, das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung faktisch abgeschafft worden ist, dann erst wird uns langsam klar, wie merkwürdig dieser Jugendarrest unterhalb der Jugendstrafe zur Bewährung ist, der in den Gerichten tagaus tagein angeregt wird. By the way, in dem Fall mit dem sechzehnjährigen Räuber, der in so festen Erziehungsverhältnissen in der Stadt Köln lebt, hat die Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung erklärt, sie meine, hier sei die Situation gekommen - Betreuungsweisungen hatten in der Vergangenheit nicht recht gegriffen -, die Grenzen zu zeigen, und hat einen Jugendarrest angeregt. Das sind die Situationen, in denen uns das brüchige Gesetzesprogramm es im Alltag immer wieder schwer macht, zu vernünftigen und zu richtigen Entscheidungen zu kommen.
Noch eine Bemerkung zu § 105: Ich glaube wir haben Veranlassung, uns die quantitative Bedeutung dieser Reformfrage bewusst zu machen. Unsere Zunft, und darauf bin ich stolz, ziseliert Einwände gegen den europäischen Haftbefehl, der möglicherweise nicht mehr als Dutzend Verfahren in der Vergangenheit betroffen hat, und kippt mit allem juristischen Sachverstand hier falsche Regelungen. Aber es geht um 70.000 Verurteilungen von Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht, wenn wir die Frage zulassen, ob wir diese Altersgruppe aus dem Segment der Anwendungsfähigkeit des Jugendstrafrecht herausbefördern können. Es geht darum, sich bewusst zu machen, dass da die eigentlich kriminologisch relevanten Anzahlen von Straftaten begangen werden. Wir haben, auf der Basis der Kriminalitätsbelastungsziffern, ganz grob, 1.000 Erwachsene pro 100.000 die im Jahr verurteilt werden. Wir haben bei den Jugendlichen rund 2.000 Jugendliche die pro Jahr auf 100.000 Fälle verurteilt werden und wir haben beiden Heranwachsenden 4.000 die bezogen auf 100.000 Fälle verurteilt werden. Das heißt, wir reden über das relevanteste Segment von kriminell relevanter Auffälligkeit im Segment der Heranwachsenden. Und das sollen wir aufgeben?

[...]

Franz Streng:

... Ich glaube, dass so ein Jungtäter-Recht, diese Altersgrenze 25 Jahre kann man übrigens bis ins römische Recht hinein verfolgen, hatte schon früher einen gewissen Appeal dahingehend, dass man sagte, so richtig erwachsen, voll mit allen Pflichten, wird man erst auf dieser Ebene des Fünfundzwanzigjährigen. Ich glaube aber, dass man da im allgemeinen Strafrecht bleiben kann und einfach eine jungen Alters spezifische Strafmilderung einführen kann. Ich sehe nicht, dass wir für diese Gruppe das Jugendstrafrecht strapazieren müssen.

Klaus Breymann:

Ich denke, wir sollten die Widersprüchlichkeit der Situation genau fokussieren, die darin besteht, dass unser Heranwachsenden-Strafrecht im europäischen Vergleich eine gewisse splendid isolation darstellt. Es ist ein differenziertes System, das, wenn wir auf europäische Standards nivellieren wollten, in der Gefahr steht preisgegeben zu werden. Andererseits haben wir sicher im Bereich des Vollzugs der Jugendstrafen gegenüber Jugendlichen im Alterssegment von 14 bis 18 Jahren mit der Strafobergrenze von 10 Jahren, eine vergleichsweise harte Regelung und im europäischen Vergleich sicher Verbüßungszeiten, die eher niedriger liegen. Insofern ist es natürlich ein Dilemma, überhaupt daran zu rühren, weil wir vielleicht das eine kriegen und das andere verlieren würden.

Joachim Schmitz-Justen:

Wir sollten vom Thema der Altersgrenzen zum Thema des Sanktionenbereichs wechseln. Was zu den Inkonsistenzen des Gesetzes gehört, ist der Begriff der schädlichen Neigungen. Ein Begriff, der immer sehr eng an Schädlingsbekämpfung und ähnliches, aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammendes erinnert. Sind wir uns einig, dass der Begriff schlicht nicht ins Gesetz gehört, dass er ersetzt werden muss?

Klaus Breymann:

Ja sicher sind wir uns darüber einig. Diesen Begriff nimmt man eigentlich gar nicht in Mund und schon gar nicht in Gegenwart des Betroffenen. Das ist völlig absurd. Aber, dass wir überhaupt einen Erziehungsmaßstab, auch im Bereich der Jugendstrafe, haben und nicht nur einen Schuldmaßstab, das würde ich nach wie vor verteidigen.
Alles was uns im Zusammenhang mit der Anwendung der Jugendstrafe wegen "schädlicher Neigungen" stört - oder doch das meiste - ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das, was da passiert mit dem eigentlichen Erziehungsanspruch des Gesetzes nichts mehr zu tun hat. [...] Ich glaube immer noch, dass unser allgemeines Übereinkommen ist, dass man Jura studiert, weil man auch eine innere Affinität zur Ordnung hat. Und Recht heißt ja auch Ordnung schaffen. Aber Erziehung heißt nicht Ordnung schaffen. Gleichwohl ist es so, dass wir im Jugendstrafrecht, auch im Bewusstsein, man prüfe sich da auch selber, immer noch diese Ordnungsvorstellungen haben. Ich rede gar nicht für irgendeine "weiche Welle", sondern ich halte es für völlig unfachlich, von Milde oder Strenge zu reden. Mich interessiert in erster Linie, was nützt und was nützt nicht. Und wenn das Strenge nützt, dann soll das Strenge angewandt werden. Aber wenn man mir erklärt, dass es nichts nützt, dann kann man es auch bleiben lassen. Und wenn man mir gar erklärt, dass es in vielen Fällen schadet, dann muss es eben auch bleiben. [...]
Gerade im Bereich der Frage der Jugendstrafe wegen "schädlicher Neigungen" - oder wie immer man das nennen will -, wird es letztendlich darauf ankommen, dass man mit diesem Instrumentarium hochverantwortungsvoll und auch erzieherisch kompetent umgeht. Wenn man diesen Maßstab anlegen wollte, [...] und untersucht, wie viele der Insassen in unseren Jugendstrafanstalten gefährlich sind und deshalb sozusagen vor der Öffentlichkeit weggeschlossen werden müssen, dann stellte man fest, dass man Eindrittel der Insassen wahrscheinlich viel besser auch draußen entsprechend behandeln und erziehen könnte. [...] Es ist völlig klar - und ich will es fast nicht sagen, aber sage es trotzdem -: Es ist auch Aufgabe von Staatsanwaltschaft das durchzusetzen. Wenn man zunehmend erwachsen wird, wird man zunehmend daran gemessen, was man tut und wie man handelt. Und dann muss man auch lernen, dass man für die eigenen Handlungen auch gerade stehen muss. Aber das muss anders aussehen, als dass nun gerade einem "schädliche Neigungen" beigemessen werden und man dafür in den Knast geht.

Lukas Pieplow:

Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen, ist eine ungeheure Absurdität, ein Stein gewordener Fehlgriff des Gesetzgebers. Das bedeutet nämlich, dass jemand dafür, dass er von anderen fehlerzogen worden ist, mit einer Kriminalstrafe bestraft wird. Das Opfer wird bestraft. Man wird nicht bestraft wegen der Schwere der Tat, sondern aufgrund der Fehlhaltung, die die Gesellschaft und die Erziehungspersonen in einem angelegt haben [...].
Wir hatten auch beim Juristentag eine Mehrheit dafür, dass man das streicht. Es bleibt dann für die Strafe die Schuld übrig, also die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld. Ich meine, diesen Weg sollte man gehen. Das hat natürlich eine Konsequenz, nämlich dass die im Jugendstrafrecht pauschalen Strafrahmen ihre Bedeutung verlieren müssen. Deswegen war die Diskussion vorher auch etwas abgehoben, warum? Wenn wir nur keine Erziehungsstrafe, nämlich die Jugendstrafe wegen "schädlicher Neigungen", haben, und die Schuldstrafe haben, dann muss der entsprechende Strafrahmen nach oben, konkret nach Schuldstandards, begrenzt werden. Das heißt, man würde vermutlich Anleihen beim Erwachsenenstrafrecht nehmen und sagen, Jugendliche dürfen maximal die Hälfte der Strafrahmenobergrenze des Erwachsenenstrafrechts erhalten für schwerste Schuld, die sie im entsprechenden Straftatbestand realisiert haben. Man könnte sich vorstellen, für Heranwachsende gilt Zweidrittel. Das würde bedeuten, dass die Obergrenze, 10 Jahre oder 15 Jahre, allein noch für Mord, in Vollform ohne Milderungsgründe, überhaupt zur Debatte steht. Also ein vernünftiges rechtsstaatliches Recht, dass das täterstrafrechtliche Element, da wo es um Rechtsgarantien geht, angemessen zurücknimmt. Das würde bedeuten, die Jugendstrafe wegen "schädlicher Neigungen" ist weg, es bleibt nur noch Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, und die erhöht nach obenhin Limitierungen durch straftatangemessene Strafrahmen. Der Ersatz muss natürlich in irgendeiner Weise kommen und da war es ganz schön, dass etwa auch der Juristentag ein Modell akzeptiert, unabhängig von Jugendstrafvollzug eine Neuinstitution eines Erziehungsinstruments zu schaffen, das eine möglichst weitgehende ambulante Arbeit oder eine teilstationäre Betreuung vorsieht. Um wirklich erheblich erziehungs- und betreuungsbedürftige Jugendliche halten zu können, wenn die dort nicht bleiben wollen oder wenn es krisenhafte Entwicklungen gibt, kann man das auch mal auf "Zu" stellen, d.h. dann ist es eine Zeitlang stationär. Ein neues Modell ist angesagt für echte Erziehung. Aber eben nicht mehr eine Pseudoerziehung im Jugendstrafvollzug, wobei ich gar nichts gegen das Engagement derjenigen sagen will, die im Jugendstrafvollzug arbeiten. Die bemühen sich nach Kräften - aber eben unter den gegebenen, schwierigen Bedingungen.
Es geht also darum, dass wir ein Modell schaffen, dass der Situation und den Bedürfnissen angemessen ist und dem Rechtsstaatsanliegen, das wir im Strafrecht immer verfolgen sollten.

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