Strafverteidigertag Rechtspolitik

41. Strafverteidigertag Bremen 2017

 

Bremer Erklärung

Rechtspolitische Forderungen des 41. Strafverteidigertages (PDF)

41. Strafverteidigertag : Bremen, 24.-26.3.2017

Mehr 800 Strafverteidiger und Strafverteidigerinnen, Vertreter*innen der Justiz und Wissenschaft sind in Bremen unter dem Titel »Der Schrei nach Strafe« zusammengekommen.

+ Strafverteidigertag mahnt Politiker zu Zurückhaltung im Wahlkampf und fordert eine Kehrtwende in der Rechtspolitik

Am Sonntag, dem 26. März 2017, ist der 41. Strafverteidigertag in Bremen mit der Verabschiedung einer »Bremer Erklärung« für eine liberale Strafrechtspolitik zu Ende gegangen. Über 800 Teilnehmer, überwiegend Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger sowie Vertreter*innen der Justiz und der Strafrechtswissenschaft, haben an drei Tagen aktuelle Fragen des Straf- und Strafprozessrechts diskutiert und ein deutliches Signal gegen die fortschreitende Ausweitung der Strafbarkeit gesetzt.
In einer abschließenden Erklärung ruft der Strafverteidigertag die politischen Parteien auf, von Forderungen nach einer weiteren Ausweitung des Strafrechts im anstehenden Wahlkampf Abstand zu nehmen. Strafe ist kein Mittel zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Die populäre Forderung nach ständig neuen Straftatbeständen untergräbt vielmehr den Rechtsstaat und gefährdet die Freiheitsrechte der Bürger. Immer dort, wo es darauf ankommt, versagt der »Schrei nach Strafe«, wie die Beispiele des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt oder die Vorkommnisse während der Silvesternacht vor einem Jahr gezeigt haben – in beiden Fällen hat nicht das Strafrecht, sondern haben die Vollzugsbehörden versagt. Der Strafverteidigertag forderte daher mehr und gezieltere Investitionen in Prävention und in die Ausbildung der Vollzugsbehörden.
Den zur Bundestagswahl antretenden Parteien legten die Teilnehmer einen ganzen Katalog von als drängend bezeichneten Reformen vor.
•So soll das Recht der Pflichtverteidigung reformiert und die Untersuchungshaft neu geordnet werden. Pflichtverteidiger sollen nicht mehr von Richtern nach der Maßgabe eines einfachen und schnellen Verfahrens ausgewählt werden. Die Verhängung von Untersuchungshaft soll auf tatsächlich erforderliche Fälle beschränkt werden.
•Für das Ermittlungsverfahren werden u.a. die audiovisuelle Aufzeichnung polizeilicher Vernehmungen und ein gesetzliches Verbot der Tatprovokation gefordert.
•Auch soll – wie international längst üblich – endlich auch die Hauptverhandlung in Strafsachen dokumentiert werden.
Opferrechte gilt es effektiv aber außerhalb des Strafverfahrens zu stärken. Die Opferrechtsreformen der vergangenen Jahre haben den Geschädigten von Straftaten wenig gebracht, dem rechtsstaatlichen Strafverfahren aber großen Schaden zugefügt.
•Die Ersatzfreiheitsstrafe, die Mittellose trifft, soll abgeschafft werden. Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft Menschen, die nicht fähig oder finanziell nicht in der Lage sind, Geldstrafen zu bezahlen. Sie benötigen Hilfe, nicht Haft.
•Auch die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe fordert der Strafverteidigertag. Diese ist schädlich, unterminiert den Anspruch auf Resozialisierung, wirft weitgehende verfassungsrechtliche Probleme auf und ist unter Gesichtspunkten der Prävention unsinnig.
•Die Tötungsdeliktsnormen (Mordparagraf), die aus dem Nazi-Strafrecht übernommen wurden, sollen endlich reformiert werden.

Auch das Thema Türkei spielte auf dem Strafverteidigertag eine Rolle. In einer abschließenden Resolution weisen die Strafverteidiger*innen darauf hin, dass sich die Repressionen der türkischen Regierung nicht alleine gegen Journalisten richten. 287 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte befinden in der Türkei in Haft (Stand Anfang März 2017), gegen 708 Anwält*innen wurden seit dem Putschversuch im Juli 2016 Haftbefehle erlassen. Zunehmend werden auch Justizjuristen verhaftet. Von einem Rechtsstaat kann in der Türkei keine Rede mehr sein. Der Strafverteidigertag fordert die Bundesregierung unter anderem auf, die polizeiliche und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit der Türkei einzustellen.
In insgesamt sieben Arbeitsgruppen und verschiedenen zusätzlichen Veranstaltungen wurden darüber hinaus u.a. aktuelle Entwicklungen im Insolvenzstrafrecht, bei der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, bei der Pflichtverteidigerbestellung, im Sexualstrafrecht und bei der strafrechtlichen Verfolgung von Fußballfans diskutiert. Andere Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit den Grundlagen des Strafverfahrens und der Frage, warum die (klassische) Freispruchsverteidigung zugunsten von Absprachen im Rückgang begriffen ist.

Der Strafverteidigertag trifft seit 1977 jährlich zusammen, um aktuelle Entwicklungen des Straf-und Strafprozessrechts zu beraten und ist mit regelmäßig über 600 Teilnehmer*innen die größte und wichtigste Veranstaltung dieser Art in Deutschland. Gegründet während der Zeit des deutschen Herbstes ist der Strafverteidigertag eine traditionell rechtspolitisch orientierte Veranstaltung, auf der Verteidiger mit Justizvertretern, Rechtswissenschaftlern und Vertretern der Rechtspolitik zusammentreffen, und ein wichtiges Forum der Rechtspolitik.

 

Resolution des 41. Strafverteidigertages zur Situation in der Türkei

Angenommen durch das Plenum des 41. Strafverteidigertages am Sonntag, 26. März 2017

Mit dem für den 16. April 2017 geplanten Referendum steuert die AKP-regierte Türkei auf eine Autokratie zu, die allein auf Staatspräsident Erdoğan zugeschnitten ist: An die Stelle der parlamentarischen Demokratie soll nun ein ›Präsidialsystem‹ à la AKP treten, in dem sich die Legislative, Exekutive und Judikative nicht mehr gegenseitig kontrollieren, sondern einem (all)mächtigen Staatspräsidenten unterstehen. Rechtsexperten der Venedig-Kommission des Europarates warnten Ende Februar 2017 ausdrücklich vor der Durchführung des Referendums, zumal angesichts des seit Juli 2016 geltenden Ausnahmezustandes sämtliche Kontrollsysteme fehlten, um einen demokratischen Rahmen für die Abstimmung zu schaffen.

In der Türkei herrscht ein Klima der Angst, in den kurdischen Gebieten herrscht Krieg. Regierungspolitiker der AKP bedienen sich öffentlich der Symbolik der rechtsextremen ›Grauen Wölfe‹ und bedrohen, verbieten und verhaften die Vertreter*innen der demokratischen Opposition unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden mehr als 47.000 Personen inhaftiert. Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Richter*innen, Staatsanwält*innen, Rechtsanwält*innen, Journalist*innen, Gewerkschafter*innen sitzen zu Tausenden allein wegen ihrer Berufsausübung in Untersuchungshaft. Über 128.000 Menschen wurden entlassen, Medien geschlossen, Vereine – darunter auch diverse Anwaltsvereinigungen – verboten.

Die Rechte der Beschuldigten wurden per Notstandsdekret massiv eingeschränkt. Kontakte zur anwaltlichen Vertretung sind für Festgenommene und Gefangene erst nach fünf Tagen möglich und können überwacht werden. Akteneinsicht wird meist nicht gewährt. Offensichtlich rechtswidrige und allein von der gewünschten politischen Diktion geprägte Anklagen und Verurteilungen stehen auf der Tagesordnung. Eine unabhängige Justiz existiert nicht mehr. Derzeit befinden sich ca. 300 Rechtsanwältinnen in Haft, insgesamt wird gegen über 700 Anwält*innen strafrechtlich ermittelt (Stand: 16. Februar 2017 ›Arrested Lawyers Initiative‹).

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 41. Strafverteidigertags erklären sich solidarisch mit den inhaftierten und den für die Demokratie und Freiheitsrechte kämpfenden Kolleginnen und Kollegen in der Türkei und fordern
• die sofortige Freilassung der inhaftierten Rechtsanwält*innen sowie
• aller anderen unter rechtsstaatswidriger Beschneidung ihrer Beschuldigtenrechte
inhaftierten Personen,

• die umgehende Einstellung der gegen sie geführten Ermittlungsverfahren und
• die Aufhebung der Verbote gegen die Anwaltsvereinigungen in der Türkei.

Auch in Deutschland dürfen sich Exekutive, Legislative und Judikative keinesfalls zum verlängerten Arm dieser rechtsstaatswidrigen Praktiken machen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 41. Strafverteidigertages fordern weiter:

Der polizeiliche und geheimdienstliche Informationsaustausch zwischen Deutschland und der Türkei ist unverzüglich zu beenden.
Die Bundesregierung muss ihre Praxis hinsichtlich der Erteilung von Verfolgungsermächtigungen im Rahmen der sog. ›Terrorbekämpfung‹ revidieren und öffentlich dazu Stellung beziehen, dass es sich bei der Türkei gegenwärtig nicht um einen die Würde des Menschen achtenden Staat handelt, dessen Schutz eine Strafverfolgung in Deutschland rechtfertigen kann.
Die Gerichte müssen mit großer Sorgfalt prüfen, ob die Verwertung von Dokumenten der türkischen Strafverfolgungsbehörden im Bereich der ›Terrorbekämpfung‹ angesichts der Anwendung von Folter, massiver Beschneidungen von Beschuldigtenrechten und Beweismittelfälschungen überhaupt noch in Frage kommen kann.

 

Ergebnisse der Arbeitsgruppen

AG 1 : Freispruch? Freispruch!

1. Während im Jahr 1976 noch etwa 4,5% aller Ermittlungsverfahren, die in das gerichtliche Hauptverfahren gelangten, mit einem Freispruch endeten, waren es im Jahr 2015 nur noch 3%. Von den Verfahren, bei denen die Beschuldigten sich in Untersuchungshaft befanden, waren es im Jahr 2015 sogar nur 1,6%. Zeugenaussagen stellen bei der großen Mehrheit der Freispruch-Verfahren das entscheidende Beweismittel dar und der Freispruch erfolgt meist deshalb, weil das Tatgeschehen bzw. die Schuldfrage in der Hauptverhandlung auf Grundlage der vorliegenden Zeugenaussagen nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit geklärt werden konnte.
2. Verfahren, in denen keine Verteidigerin bzw. kein Verteidiger bestellt ist, enden in der Regel nicht oder nur in Ausnahmefällen mit einem Freispruch. Im Rahmen einer Freispruchsverteidigung steht im Mittelpunkt des Austausches mit dem Mandanten nicht nur die Frage nach dem »wahren« Sachverhalt, sondern auch die Frage der Beweisbarkeit desselben. Jedes von der Verteidigung angenommene Mandat ist mit allem gegebenen fachlichen Können und allen erlaubten Mitteln zu führen. Die mangelnde Kampfbereitschaft bzw. konsensgeneigte Berufsausübung der Verteidigung verhindert Freisprüche. Das vor allem für die Freispruchverteidigung bedeutsame umfassende Schweigerecht des Angeklagten bzw. Beschuldigten ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens und ist als solcher im Verhältnis zu den übrigen Verteidigungsmöglichkeiten als gleichwertig anzuerkennen.
Von sämtlichen Ermittlungsverfahren werden 57% angeklagt. Hierbei halten sich Anklagen und Anträge auf Erlass eines Strafbefehls die Waage. Die formale optische und sprachliche Gestaltung eines Strafbefehls erschwert dem unverteidigten Beschuldigten bzw. Angeschuldigten die Erfassung der - teils erheblichen - strafprozessualen Folgen eines rechtskräftigen Strafbefehls. Der Erlass eines Strafbefehls sollte nur dann prozessual möglich sein, wenn für den Beschuldigten bzw. Angeschuldigten eine Verteidigerin bzw. ein Verteidiger bestellt ist. Andernfalls wird nicht gewährleistet, dass auch ein Strafbefehlsverfahren mit einem Freispruch enden kann.
3. Den Maßstab für die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung auf ihre Richtigkeit bildet - abweichend von der gesetzlichen Idealvorstellung der materiell-historischen Wahrheit - die sog. »forensische Wahrheit«. Ein Fehlurteil (im engeren Sinne) ist danach eine gerichtliche Entscheidung, die einer Überprüfung am Maßstab der forensischen Wahrheit nicht standhält, also in diesem Sinne falsch ist. Der Freispruch auf Grundlage der forensischen Wahrheit ist kein Fehlurteil.
4. Zwar bietet die Strafprozessordnung aufgrund des strikten Rekonstruktionsverbotes der Revisionsgerichte formal nur wenig Möglichkeiten, Sachverhalte in der Hauptverhandlung festzuschreiben, bestimmte Festschreibungsansätze verdeutlichen dem Gericht aber die Präsenz einer wachsamen und konfliktbereiten Verteidigung und wirken so einer verzerrten Darstellung der Beweisergebnisse im Urteil entgegen. Dies gilt vor allem für die Tätigkeit im Rahmen einer Freispruchverteidigung.

AG 2 : »Immer wieder Köln?«
Von Frauenrechten, Sexualität und Strafbarkeitslücken

1. Die gesetzliche Neuregelung der §§ 177 n.F, § 184 i und § 184 j StGB ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich, wenn nicht verfassungswidrig. Die Neuregelungen entsprechen nicht dem Bestimmtheitsgebot, dem Gleichheitsgrundsatz, dem Rechtsstaatsprinzip und wegen der Überregulierung auch nicht dem allgemeinen Freiheitsgrundrecht. Die Normen müssen dringend durch Experten in Ruhe überarbeitet und neu gefasst werden.
2. Die Erwartungen von Frauenverbänden usw. die mit dem Gesetz verknüpft werden (Stärkung von Frauenrechten, Schließung von Strafbarkeitslücken, Beweiserleichterungen) können und werden mit der Neuregelung nicht erfüllt werden.
a) Das hinter dem Gesetz stehende idealisierte Opferbild stimmt mit den tatsächlichen Tatumständen und den tatsächlich Betroffenen nicht überein.
b) Es gibt keine Schließung von »Lücken« durch das Gesetz; das Gesetz leitet vielmehr einen Paradigmenwechsel ein und regelt etwas systematisch anderes - ein Mehr (nicht nur bloß Lückenschließung).
c) Beweiserleichterungen werden nicht eintreten, im Gegenteil; vielmehr muss aus Amtsaufklärungsgründen die Situation des »entgegenstehenden Willens« ganz genau ermittelt werden; es wird daher der gegenteilige Effekt eintreten.
d) Das politische Konzept des »Opfers« ist mit der juristischen Sicht der Unschuldsvermutung unvereinbar; durch diese Inkompatibilität werden unlösbare Probleme in das Strafverfahren hineingetragen.
e) Das neue Recht wird hohe Erwartungen zwangsläufig enttäuschen und das wird zu neuen Erwartungen an Gesetzesverschärfungen und an strafprozessuale Änderungen (Beweiserleichterungen) wecken.
3. Die gesetzliche Neuregelung führt zu einer faktischen Abschaffung des nemo-tenetur-Grundsatzes. (Verteidigungsansätze sind meist nur noch mit einer Einlassung möglich.)
4. Obwohl die rechtspolitische Diskussion um das Thema sexuelle Gewalt kreist, ist empirisch keine Gewaltzunahme, sondern das Gegenteil nachweisbar.
5. Eine lebenswerte, spannende und erfüllte Sexualität muss geschützt werden. Sie muss vor dem Zugriff, der Kontrolle und der Einmischung des Staates geschützt werden.
6. Symbolpolitik, wie sie die Gesetzesänderungen im Sexualstrafrecht prägt, ist abzulehnen.
7. Der Tatbestand des § 177 n.F. StGB stellt Handlungen unter Strafe, für die keine Fallbeispiele denkbar sind; er ist dogmatisch nicht durchdacht, weist Brüche auf und geht auf eine Fallanalyse des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) mit zurück, die Gefühle statt Fakten bedient.

AG 3 : Inquisitor versus Schiedsrichter
Adversatorische und inquisitorische Prozessmodelle im Vergleich

Die AG 3 beschäftigte sich rechtsvergleichend mit dem englischen, französischen und deutschen Strafprozessrecht sowie dem Verfahren vor dem IStGH. Die Referenten vermittelten ein lebendiges Bild von den verschiedenen Verfahrensansätzen und sorgten für eine rege Diskussion auf hohem Niveau.
Während die Referenten für das deutsche und das französische Strafprozessrecht die Defizite ihrer Prozessordnungen und deren gelebter Praxis in den Mittelpunkt stellten, berichtete der in England früher als Anwalt und heute als Richter tätige Owen Davies, QC, mit dem englischen Strafverfahrensrecht sehr zufrieden zu sein. Der beim IStGH wirkende BGH-Richter Prof. Dr. Bertram Schmitt schilderte den hybridhaften Charakter des dortigen Verfahrensrechts, dessen zwitterhafte Eigenschaften das Gericht vor große Herausforderungen stellen würde. Bemerkenswert war, dass er als BGH-Richter die Erfahrung gemacht habe, dass die konsequente Dokumentation der Hauptverhandlung für den erkennenden Richter eine große Hilfe sei, weil er sich auf den Inhalt der Vernehmung konzentrieren und bisweilen gefärbte Wahrnehmungen während der Hauptverhandlung überprüfen könne.
Nachdem sich bei der Darlegung der Defizite des deutschen Strafprozesses vor allem die fehlende Dokumentation der Hauptverhandlung als eines der größten Probleme erwies, erneuert die AG 3 des 41. Strafverteidigertages die bereits mehrfach erhobene Forderung, die Dokumentation der Hauptverhandlung sowie geeignete revisionsrechtliche Regeln einzuführen, um den Inhalt der Beweisaufnahme für das Revisionsgericht transparent zu machen und das Revisionsverfahren für damit sichtbar werdende Gesetzesverstöße zu öffnen.

AG 4 : Recht der Pflichtverteidigung

Die Pflichtverteidigung, bzw. die Beiordnung in einem Fall notwendiger Verteidigung, ist in einer Vielzahl von Fällen essentiell für den Zugang zur Verteidigung überhaupt. In der Rechtswirklichkeit wird in der überwiegenden Anzahl von Verfahren vor den Landgerichten und den Schöffengerichten die Verteidigung auf der Basis der Pflichtverteidigung geführt.
Bei der Beiordnungsentscheidung ist im Falle der Auswahl des Verteidigers durch die Gerichte nicht gewährleistet, dass sich die Entscheidung allein am Interesse des Beschuldigten/Angeklagten an einer wirkungsvollen Verteidigung orientiert. Es fehlt überdies bereits an brauchbaren gesetzlichen Kriterien für die Auswahlentscheidung. Es besteht ein unauflösbarer Interessenkonflikt bei der Auswahl des Verteidigers durch das Gericht.
Die Auswahl des (Pflicht-)Verteidigers durch den Beschuldigten/Angeklagten ist das beste Verfahren um rechtsstaatlich die Wahrung seiner Interessen zu gewährleisten. Es ist ihm deshalb prinzipiell zu ermöglichen, den in einem sehr frühen Stadium des Verfahrens beigeordneten bzw. gewählten Verteidiger auszuwechseln.
Für den Fall, dass der Beschuldigte/Angeklagte keinen Verteidiger benennt, soll die Beiordnung durch die Rechtsanwaltskammer erfolgen.
Sofern die Auswahl des Verteidigers bei den Gerichten verbleibt, ist eine transparente Beiordnungspraxis sicherzustellen. Diese muss auch wirksam sicherstellen, dass qualifizierte Verteidiger Zugang zur Beiordnung haben, z.B. durch Berücksichtigung auf einer nach fachlichen Kriterien strukturierten Liste.
Die Kosten der notwendigen Verteidigung sollen als Kosten, die für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens -eines Grundrechts - angefallen sind, auch im Verurteilungsfall nicht dem Angeklagten zur Last fallen. Jedenfalls soll hinsichtlich der Kosten eine Bedürftigkeitsprüfung - vergleichbar der PKH, stattfinden.
Allein die frühestmögliche eines Verteidigers gewährleistet die wirksame Wahrnehmung der Rechte eines Beschuldigten.
Die in der Richtlinie der EU 2016/1919 vorgesehene Ausweitung von Beschuldigtenrechten, z.B. die finanzielle Gewährleistung (PKH oder Beiordnung) der Beiziehung eines Verteidigers spätestens vor der Befragung durch eine Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht wird begrüßt.
Im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren sollte die Anwaltschaft auf eine möglichst weitgehende Transformierung der Richtlinie in deutsches Recht drängen.

AG 5 : Vermögensabschöpfung

• Bei der Bestimmung des Erlangten ist die Einschränkung des Bruttoprinzips auch auf unvermeidbare Verbotsirrtümer zu erstrecken.
• Die Neuregelung der erweiterten Einziehung, wonach Anknüpfungstat nunmehr jede Straftat sein kann, ist europarechtlich nicht geboten. Sie ist deswegen am Maßstab der Verfassung zu messen. Ob der hiermit verbundene Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG als verhältnismäßig angesehen werden kann, erscheint zweifelhaft.
• Die Regelung der verurteilungsunabhängigen Einziehung erscheint problematisch, weil nicht ersichtlich ist, an welche Tatsachen die richterliche Überzeugung von der deliktischen Herkunft des Vermögensgegenstandes anknüpfen soll, wenn eine Anlasstat nicht erforderlich ist.
• Die Neuregelung der vorläufigen Sicherung von Vermögenswerten bleibt hinter der alten Regelung insoweit zurück, als das Erfordernis eines Sicherstellungsbedürfnisses sich dem Gesetzeswortlaut nicht mehr unmittelbar entnehmen lässt. Gleiches gilt im Hinblick auf den Umstand, dass die Regelung, wonach nach sechs Monaten ein dringender Tatverdacht erforderlich ist, nunmehr durch allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen ersetzt worden ist.

AG 6 : Das Insolvenzstrafrecht
Überflüssiges (gar schädliches?) Bestrafen des wirtschaftlichen Scheiterns oder notwendiger Steuerungsmechanismus einer Marktwirtschaft?

• Das materielle Insolvenzrecht ist zu entkriminalisieren und zu entschlacken.
• De lege ferenda sind mindestens die Fahrlässigkeitstatbestände abzuschaffen.
• Eine frühzeitige Insolvenzantragsstellung kann durch eine Strafvorschrift nicht erreicht werden.
• Schutzzweck der Insolvenzdelikte ist allein das Gläubigerinteresse und nicht ein darüber hinaus gehendes Allgemeininteresse.
• Das Tatbestandsmerkmal der Überschuldung sollte ersatzlos gestrichen werden.
• Das normative Tatbestandsmerkmal der Zahlungsunfähigkeit ist für die Zwecke des Strafverfahrens nicht justiziabel.
• Die Insolvenzgerichte dürfen Mitteilungen an die Staatsanwaltschaft nicht automatisiert und in jedem Fall gewerblicher Insolvenz auf den Weg bringen.
• Nur bei begründetem Verdacht darf eine entsprechende Mitteilung erfolgen.
• Hierbei ist das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO zu beachten.
• Insbesondere die praktizierte flächendeckende Beiziehung der Insolvenzakten zur systematischen Auswertung ist ohne hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte rechtswidrig.

AG 7 : Verteidigung nach dem Schlusspfiff
Sonderstrafrecht für Fußball-Fans?

Verfahren im Zusammenhang mit Fußball weisen Elemente eines Sonderstrafrechts auf. Dazu hat die Arbeitsgruppe die nachfolgenden Feststellungen getroffen:
Umfassend wurde die rechtliche Behandlung der Alltagsdelikte mit Fußballbezug dargestellt. Betont wurde, dass Verfahren neben strafrechtlichen Aspekten stets auch verwaltungsrechtliche (präventiv-polizeirechtlich) und zivilrechtliche (Stadionverbote) Bezüge aufweisen.
Fußballgewalt wird deshalb als so bedrohlich empfunden, weil sie im öffentlichen Raum stattfindet.
Durch ihre enorme Präsenz ist die Polizei in der Lage, Konflikte mit Fans abschließend und zu deren Nachteil zu definieren und in strafrechtliche Ermittlungsverfahren zu überführen. So folgt z.B. aus kleinen Rempeleien oder verbalen Auseinandersetzungen anlässlich der Begegnung mit Fußballfans oftmals ein Ermittlungsverfahren, während sie in vergleichbaren Situationen (Wirtshausschlägerei und Nachbarschaftsstreitigkeit) in der Regel folgenlos bleiben.
Festzuhalten ist eine prozessuale Ungleichbehandlung durch Verweigerung von Opportunitätsentscheidungen bei klassischen Bagatelldelikten (z.B. Beleidigung).
Was die Polizei aufnimmt und festhält, wird mit dem Ziel an die Stadionbetreiber und den DFB ohne Rücksicht auf Datenschutzrechte weitergeleitet, um ein sofort wirksames Stadionverbot aussprechen zu lassen - mit bundesweitem Geltungsbereich (bis in die 4. Liga). Damit findet über den Umweg des Zivilrechts eine faktische Sanktionierung statt, die mittels der eigentlich einschlägigen strafrechtlichen und gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften (z.B. Aufenthaltsverbot) nicht möglich wäre.
Stadionverbote sind aus juristischer und sozialpädagogischer Sicht kontraproduktiv. Sie isolieren die Betroffenen aus ihren Bezugsgruppen und unterliegen rechtlich nur rudimentärer Überprüfung. Ihre Anwendungsvoraussetzungen sind unbestimmt und führen zu willkürlichen Entscheidungen, die keine Akzeptanz finden können. Eine Verhaltensänderung wird so nicht zu erreichen sein.
Die Arbeitsgruppe fordert:
Es muss eine Selbstverständlichkeit werden, dass der Verteidigung vollständiges und unbearbeitetes Videomaterial zum Zwecke der Verteidigung ausgehändigt wird.
Auch bei Verfahren im Zusammenhang mit Fußball ist den Polizeibeamten kein zeugenschaftlicher Sonderstatus einzuräumen. Sie sind wie jeder andere Zeuge zu vernehmen. Die Vernehmung kann nicht durch dienstliche Äußerungen ersetzt werden.
Für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ist ein Zeugnisverweigerungsrecht einzuführen. Dieses könnte schon jetzt aus dem Sozialdatenschutz und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz abgeleitet werden. Nur so ist eine auf Vertrauen basierende Zusammenarbeit zwischen Fans und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Fanprojekten möglich.
Die vielfältigen Datensammlungen (Datei Gewalttäter Sport, Arbeitsdateien szenekundiger Beamte) sind nicht transparent. Sollte ihre Abschaffung nicht erreicht werden können, obwohl die Arbeitsgruppe dies fordert, ist Betroffenen von Amts wegen Auskunft über deren Inhalt zu erteilen, schon um offenkundige Fehleintragungen zu korrigieren (»Bremer Modell«).
Entgegenzutreten ist auch der Herabsetzung polizeilicher Eingriffsschwellen im Gefahrenabwehrrecht (Gewahrsamnahme/Einkesselung). Gleiches gilt im Strafrecht: Hier ist die extensive Auslegung von Tatbestandsmerkmalen abzulehnen, z.B. beim Landfriedensbruch nach dem Motto »mitgefangen - mitgehangen«.
Der Fußball darf kein Experimentierfeld für symbolische Kriminalpolitik sein; elektronische Fußfesseln für Fußballfans lehnen wir ab. Zudem ist eine wirksame Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte zu fordern, die diesen Namen auch verdient (Kennzeichnung vorne und hinten).

 

Die Bremer Erklärung enthält rechtspolitische Forderungen des Strafverteidigertages:
+ Reform der Tötungsdeliktsnormen
+ Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe
+ Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe
+ Reform des U-Haftrechts
+ Reform der Pflichtverteidigerbestellung
+ Reform des Ermittlungsverfahrens
+ Dokumentation der Hauptverhandlung
+ Opferrechte außerhalb des Strafverfahrens regeln

Die Forderung nach einer Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe wird ausführlich begründet in dem Policy Paper >Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe< (s.u.)