Strafverteidigertag Rechtspolitik

DNA-Phenotyping und Racial Biases

Die Rede von der ‚erweiterten DNA-Analyse‘ ist irreführend.
Denn die geplanten Ermittlungstechnologien greifen wesentlich tiefer und qualitativ anders in die Grundrechte der Betroffenen ein, als dies bei der bisherigen DNA-Analyse der Fall ist. Von Carsten Momsen.

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Wer sich mit dem amerikanischen Strafverfahren beschäftigt, weiß, dass eines der zentralen Strukturprobleme sogenannte »racial biases« sind. Wie von Kahnemann, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft|1 eindrucksvoll entwickelt und bspw. von L. Song Richardson & Phillip Atiba Goff|2 überzeugend auf die Ermittlungspraxis übertragen, ist die Strafverfolgung massiv von Erwartungshaltungen geprägt, die auf – rassistischen – Vorurteilen beruhen.|3 Zwei Effekte werden immer wieder kritisiert: Die Strafverfolgung konzentriert sich auf Minderheiten, der hohe Überwachungs- und Verfolgungsdruck muss gerechtfertigt werden und führt zu einer Absenkung der Eingriffsschwelle, um Erfolge zu produzieren. Im Ergebnis steht eine funktionale Kriminalisierung von Minderheiten.

Einiges spricht dafür, dass Strafverfahren auch in Deutschland durch aktuelle Gesetzesinitiativen mit den oben nur skizzierten Effekten stärker als bislang belastet werden könnten. Das Paradigma, in welchem diese Entwicklungen stehen, ist durch die Eckpunkte »Anti-Terror-Kampf«, »Predictive Policing«|4, die Aufwertung des Ermittlungsverfahrens - mit einerseits stärkeren partizipatorischen Rechten der Verteidigung aber auch steigender Bedeutung von Absprachen, dem Transfer von Beweismitteln in die Hauptverhandlung sowie einer tendenziell aufgewerteten Stellung der Strafverfolgungsorgane|5 - und last not least der Vermischung von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Gefolge umfassender und in schneller Folge konzipierter Sicherheitsgesetze|6 gekennzeichnet.

Hier erweist sich die insbesondere durch die Gesetzesvorschläge|7 der Landesregierungen Baden-Württembergs und Bayerns mit neuer Dynamik versehene sog. »erweiterte DNA-Analyse« als ein Baustein. Mögliche Ermittlungserfolge sind hier, wie auch in anderen Bereichen der jüngsten strafprozessualen Gesetzgebung mit Gefahren für Bürgerrechte, einer Gewährleistung effektiver Verteidigung für alle Beschuldigten sowie Diskriminierungspotentialen abzuwägen.
Nach aktuellem Stand der Wissenschaft kann man aus der DNA eines Menschen neben vielen anderen Informationen, wie etwa der Prädisposition für bestimmte Krankheiten, auch erkennen, welche Augen-, Haar und Hautfarbe (sog. »äußere Merkmale«) ein Mensch hat. Dies funktioniert mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von bis zu 95 Prozent, eventuell mehr. Daneben ist es auch möglich, vorherzusagen, von welchem Kontinent (und ggf. sogar Subkontinent) der Spurenträger genetisch abstammt (sog. »biogeographische Herkunft«, nicht zu verwechseln mit dem häufig missinterpretierten und immer wieder zu Völkermorden instrumentalisierten Begriff »Ethnie«). Aussagen können hier allerdings mit geringerer Wahrscheinlichkeit getroffen werden. Einige Innenministerien, Polizeibehörden und Wissenschaftler rufen nach einer unverzüglichen gesetzlichen Erlaubnis, diese Technologien nutzbar zu machen.

Kann eine genetische Bestimmung der biogeographischen Herkunft eines Menschen bei der Aufklärung von Straftaten helfen? Wie hoch ist der Nutzen, wie groß sind die Gefahren, wenn im Rahmen eines sog. »Forensic DNA-Phenotyping« aus einer am Tatort eines Verbrechens aufgefundenen DNA Spur einen Rückschluss auf äußere Merkmale und biogeographische Herkunft gestattet wäre?

Was wir derzeit kennen, ist der sog. DNA-Spurenabgleich: An einem Tatort findet sich eine DNA-Spur - Sperma, Haare, Hautschuppen. Diese kann, eine ausreichende Qualität der Spur vorausgesetzt, analysiert und mit den in der DNA-Analyse-Datei gespeicherten Spuren aus anderen Straftaten verglichen werden. Findet sich eine Übereinstimmung, so spricht vieles dafür, dass der Träger der Vergleichsspur zu irgendeinem Zeitpunkt am Tatort war, Kontakt zum Opfer hatte usw. Ein sicherer Rückschluss auf die Täterschaft ist dies nicht, aber ein Hinweis, dem nachzugehen aller Anlass besteht.
Das DNA-Phenotyping hat dagegen eine ganz andere Eingriffsqualität, die Bezeichnung als »erweiterte DNA-Analyse« ist insoweit irreführend. Zwar findet sich wieder eine DNA-Spur am Tatort, jedoch gibt es keine Vergleichsspur. Nun soll aus der Spur ermittelt werden, welche Augen-, Haar- und Hautfarbe der Spurenträger hat und aus welcher Region der Erde er genetisch abstammt. Auf die dann in Betracht kommende Bevölkerungsgruppe könnten die Ermittlungen konzentriert werden. Das ist in etwa so, als würde es einen Hinweis geben, dass mit vielleicht 80 Prozent Wahrscheinlichkeit der Täter in einem mittelgroßen Wohngebiet wohnt. Und nun beginnt die Polizei, Erkundigungen über alle Bewohner des Gebiets einzuholen und flächendeckende Befragungen aller Anwohner durchzuführen, um herauszubekommen, ob einer von ihnen als Täter in Betracht kommt. Das ist zumindest lästig. Denn ganz offensichtlich ist von vornherein klar, dass die allermeisten Bewohner völlig unverdächtig sind, aber trotzdem (fast) wie Verdächtige behandelt werden. Diskriminierend wird die Angelegenheit, wenn sich die Prozedur bei diversen Straftaten wiederholt. Denn die nach wie vor unschuldigen und unverdächtigen Bewohner des Wohngebiets werden immer wieder mit Straftaten in Verbindung gebracht, das Gebiet wird vielleicht sogar als Hochburg der Kriminalität gelten. Selbst wenn sich später herausstellt, dass kein Anwohner etwas mit der Tat zu tun hatte und niemand zu Unrecht verurteilt wird, so bedeutet alleine die Duldung der Ermittlungsmaßnahmen einen ganz erheblichen Eingriff in verschiedene Grundrechte.

Schnell zeigen sich die Bedenken, die gegen eine genetische Analyse der sog. »biogeographischen Herkunft« bestehen: Zunächst einmal handelt es sich um eine komplexe Merkmalskombination mit derzeit relativ hoher Fehleranfälligkeit, heißt: Der Täter kann tatsächlich eine andere Abstammung haben (wohnt gar nicht im Neubaugebiet). Auch macht ein solcher Test nur dann Sinn, wenn das Ergebnis auf einen abgrenzbaren Teil der Bevölkerung hinweist. Denn wenn das Ergebnis lautet, der Täter gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit der Bevölkerungsmehrheit an, ist ermittlungstechnisch nichts damit anzufangen. Die Polizei kann nicht alle Bewohner der Großstadt mit Ausnahme des Wohngebiets überprüfen. Angehörige von abgrenzbaren Minderheiten geraten automatisch unter einen deutlich höheren Ermittlungsdruck, auch wenn ihre Kriminalitätsbelastung durchschnittlich oder gering ist. Die Ergebnisse des Tests sind also faktisch nur zu verwerten, wenn sie auf Minderheiten hindeuten. Abgesehen davon: Woher weiß man, wo Menschen einer entsprechenden Abstammung zu finden sind? Wissen wir, wie die Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe aussehen? Nein. Wir haben bestenfalls unscharfe Vorstellungen davon und machen also unsere Vorurteile zur Differenzierungsgrundlage. Diese müssen weder böswillig noch bewusst rassistisch sein, aber wem ist schon bewusst, wie unterschiedlich die Menschen auch auf den einzelnen Kontinenten aussehen, wenn er hört, dass der Verdächtige aus Europa, Asien oder Afrika kommt? Dies gilt letztlich für die Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden ebenso wie für den Rest der Bevölkerung.

Vorhersehbar ist, das Ermittlungen, die eigentlich offen geführt werden müssten, durch die vermehrte Anwendung derartiger Tests vermutlich relativ häufiger gegen Minderheiten geführt werden. Auch wenn sich nachher herausstellt, dass das Testergebnis wegen seiner nur beschränkten Validität eine falsche Richtung gewiesen hat, ist die laufende Ermittlung psychologisch manchmal nur schwer umzudirigieren. In jedem Fall setzt sich allzu leicht der – unzutreffende – Eindruck fest, diese Bevölkerungsgruppe sei besonders kriminalitätsgeneigt. Im internationalen Kontext spricht man von bei derartigen vorurteilsbelasteten Wahrnehmungsfehlern von »racial and minority biases«.
Schließlich fragt sich, was eigentlich passieren soll, wenn man die biogeographische Herkunft als Ermittlungsansatz nutzt. Um den Täter aus dem Neubaugebiet sicher zu identifizieren, müsste man eigentlich von allen Bewohnern eine DNA-Probe nehmen, um diese dann mit der Tatort-Spur nach herkömmlichen Verfahren abzugleichen – eine sog. »Reihenuntersuchung«. Das Problem dabei: Ohne jeden konkreten Tatverdacht wird eine Vielzahl von Personen dazu genötigt, Proben ihrer DNA auswerten zu lassen, diese werden mindestens zwischenzeitlich archiviert und stehen evtl. für spätere Gelegenheiten zur Verfügung.

Dies ist für Augen-, Haar- und Hautfarbe schon nicht unproblematisch, bei Informationen über die Abstammung eines Menschen dürfte es sich aber eindeutig um personenbezogene und damit besonders schutzbedürftige Daten handeln. Daher kann auch der Aufbau einer weitreichenden Datenbank mit derartigen Informationen, noch dazu von unverdächtigen Menschen, nicht gewünscht sein. Ganz zu schweigen davon, was passieren kann, wenn diese Daten Hackern in die Hände geraten. In jedem Fall sind auch die Auswirkungen zu bedenken, wenn etwa ein Phenotyping »DNA-Spur weist auf Täter aus Nordafrika hin« öffentlich gemacht wird. Vorhandene Ressentiments und Rassismen würden ohne jeden Grund amtlich bedient.

Fassen wir zusammen: DNA-Profiling betrifft zumindest im Hinblick auf die sog. »biogeographische Herkunftsanalyse« den Umgang mit personenbezogenen, hochsensiblen Informationen. Entscheidend ist nicht, was technisch möglich ist, sondern wie diese Daten rechtlich zulässig und ethisch verantwortungsbewusst erhoben und verwendet werden.

Um das noch einmal klarzustellen: Es geht nicht darum, konkrete Verdächtige vor Strafverfolgung zu schützen, ganz egal, aus welcher Bevölkerungsgruppe sie stammen. Dem einstweilen unbelegten kriminalistischen Nutzen der Bestimmung der biogeographischen Herkunft aber stehen ernstzunehmende Nachteile gegenüber. Sollten also grundlegende ethische Bedenken kein Gehör finden, ist zumindest eine wirksame Vorsorge zu treffen, um das Gefahrenpotential in Grenzen zu halten: Phenotyping darf nur beim Verdacht gesetzlich zu bestimmender, sehr schwerer Straftaten eingesetzt werden. Die Anwender müssen im Umgang mit den Ergebnissen geschult werden, es sollten andere Ermittlungsansätze ausgeschöpft sein. Die Anwendung sollte in jedem Einzelfall durch ein unabhängiges Gremium legitimiert werden. In Anbetracht des relativ hohen Aufwands einer Analyse wäre es durchaus vorstellbar, eine ständige Kommission nach Art der Ethik-Kommissionen einzurichten, die kurzfristig zusammentreten und über den einzelnen Fall entscheiden kann. Die Löschung der Daten aller Unverdächtiger nach Auswertung der Analyse muss sichergestellt sein.
Eine vorschnelle und unkritische Einführung des Forensic DNA Phenotyping birgt nur schwer zu kontrollierende Risiken und ist ethisch fragwürdig. Was in Anbetracht der erheblichen Diskriminierungsgefahren schon bei den Merkmalen Augen-, Haar- und Hautfarbe zu berücksichtigen ist, gilt umso mehr für die »biogeographische Herkunft«: Erfahrungen bspw. aus England|8 zeigen, dass man vermutlich am besten ganz auf deren Analyse verzichtet.

Prof. Dr. Carsten Momsen lehrt Strafrecht an der Freien Universität Berlin und ist Mitglied in der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidiger*innen.

1 : Daniel Kahnemann, Thinking, Fast and Slow, 2012.
2 : L. Song Richardson & Phillip Atiba Goff, Self-Defense and the Suspicion Heuristic,
IOWA LAW REVIEW, Vol. 98 (2012), 293 ff.
3 : Michelle Alexander, The New Jim Crow – Masseninhaftierung und Rassismus in den USA, 2012; Bryan Stevenson, Ohne Gnade – Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA, 4. Auflage, 2015
4 : Vgl. Andrew Guthrie Ferguson, The Rise of Big Data Policing: Surveillance, Race, and the Future of Law Enforcement, 2017.
5 : Näher Verf., Pragmatische Reform oder Verflüssigung von Verfahrensstandards, in: Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, Band 40, 2017, S. 83 ff.
6: Vgl. STS@Freiburg, Symposium am9./10. /7. 2017, u.a. Verf. https://stsfreiburg.wordpress.com/2017/07/08/symposium-alle-podcasts-online/
7 : Entwurf eines Gesetzes zur effektiven und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens; Drucksache BT-Ds 18/11277; Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Umfangs der Untersuchungen von DNA-fähigem Material; BR-Drucksache (Plenarantrag) 117/1/17; Entwurf eines Gesetzes zur Angleichung von genetischem und daktyloskopischem Fingerabdruck im Strafverfahren, BR-Drucksache 231/17.
8 : Denise Syndercombe-Court / Kristiina Reed / Robin Williams / Matthias Wienroth, A Guide to Legal and Ethical Principles and Practices in Forensic Genetics, 2016; Robin Williams / Matthias Wienroth, Social and Ethical Aspects of Forensic Genetics: A Critical Review, Forensic Science Review (www.forensicsciencereview.com), Volume Twenty-Nine Number Two, July 2017, S. 145 ff.

Carsten Momsen: DNA-Phenotyping und Racial Biases, in: Freispruch, Heft 11, September 2017

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